Ein tückisches Urteil

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Für die BILD steht fest: Jetzt können die faulen Arbeitslosen es sich gemütlich machen. Das ist die Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen beim Arbeitslosengeld II.

Es ist zynische Hetze angesichts Millionen von Menschen, die in Armut leben und die nicht selten im Niedriglohnsektor arbeiten. Es sind Millionen, die arbeiten wollen, aber keine Arbeit finden oder die aus Sicht der Unternehmer zu alt, zu schlecht ausgebildet sind oder sich um Kinder und Alte kümmern müssen. Die Stimmungsmache gegen Erwerbslose ist ganz im Interesse des Kapitals: Druck erhöhen, Vorurteile schüren, spalten.

Ein anderer Teil der Öffentlichkeit, darunter die Linkspartei, reagiert positiv auf das Urteil, weil einige kleine Verbesserungen ausgesprochen wurden. Dabei ist der Preis für diese kleinen Verbesserungen hoch. Denn die Kürzung des Existenzminimums wurde grundsätzlich bekräftigt und damit zementiert. An der Lage der knapp vier Millionen Menschen, die Hartz IV beziehen, wird sich wenig ändern. Es werden weiterhin Menschen obdachlos gemacht, wenn die Kosten der Unterkunft vom Jobcenter nicht mehr übernommen werden. Es werden weiter Jugendliche in Perspektivlosigkeit gedrängt. Es werden weiter Arbeiter, die eine Ausbildung haben, in Leiharbeit gedrängt. Der Regelsatz ist so niedrig berechnet, dass der Druck, jede Arbeit anzunehmen und sei sie noch so schlecht bezahlt oder mit widrigen Bedingungen verbunden, hoch genug bleibt. Die gewisse Eingrenzung der Sanktionen auf maximal 30 % der Leistungen ändert daran wenig.

Das oberste Gericht hat mit seinem Urteil auch deutlich gemacht, dass es eben kein Existenzminimum ist. Denn ein Minimum, das unterschritten werden kann, ist kein Minimum. Dabei fand mit der Einführung von Hartz IV eine drastische Absenkung des Existenzminimus statt. Seitdem ist es nicht gelungen, einen wirklichen Kampf für die Erhöhung zu entwickeln, obwohl das für alle Beschäftigten wichtig wäre. Denn ein staatlich festgelegtes niedriges Existenzminimum drückt die Löhne nach unten. Mit der Erpressbarkeit der Lohnabhängigen machen viele Kapitalisten glänzende Geschäfte, sei es bei Paketdiensten, bei Amazon, aber auch in der Industrie.

Angesichts der steigenden Erwerbslosenzahlen und der bevorstehenden Umstrukturierung vor allem in der Autoindustrie verheißt das Urteil nichts Gutes. Es werden tausende arbeitslos werden und ihnen blühen Armut und Diffamierung.

Wir sollten außerdem nicht vergessen, dass die Gewaltenteilung des bürgerlichen Staats in erster Linien der besseren Herrschaft und ihrer Legitimation dient. Das Urteil eines Gerichts ändert nicht unbedingt etwas daran, was die Regierung machen muss und es ändert auch nichts daran, dass in den Jobcentern Willkür herrscht und es davon abhängt, an welchen Sachbearbeiter man gerät. Vor zehn Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht bereits einmal, dass das Existenzminimum eigentlich nicht unterschritten werden dürfte. Es hatte zur Folge: Nichts.

Und auch den grundsätzlichen Charakter der Gesetze bestätigte das Gericht. Mit Hartz IV wurden Erwerbslose in die Sozialhilfe geschleudert und damit Gesetzen unterworfen, die an die Gesetze gegen „Arbeitsscheue“ anknüpfen. Daran hat das Gericht nichts auszusetzen.

Vor der Agenda 2010 haben Erwerbsfähige zunächst Arbeitslosengeld und danach unbefristet Arbeitslosenhilfe bezogen, die ebenfalls am Einkommen orientiert war und eine Sozialleistung war, aber wie eine Versicherungsleistung behandelt wurde – es gab also keinen vergleichbaren Strafapparat wie beim ALG II.

Hintergrund der Hartz-Gesetze ist das stetige Anwachsen der Arbeitslosigkeit auf Grund der steigenden Produktivität. Mehr Maschinen heißt weniger Arbeiter. Eigentlich eine gute Entwicklung, aber im Kapitalismus ist sie für die Arbeiterklasse eine Gefahr. Denn die nicht mehr benötigten Arbeitskräfte sind für das Kapital überflüssig. Das Heer der Erwerbslosen wächst, die soziale Absicherung soll reduziert werden – weil es aus Sicht des Kapitals zu viel kostet und weil der Druck auf die arbeitslos gewordenen Arbeiter groß sein muss. Damit besteht eine permanente Bedrohungskulisse für die Beschäftigten und die Konkurrenz unter den Arbeitern wird verschärft.

Die Sozialdemokraten versuchen, sich jetzt als sozial zu profilieren. Aber es ist nur zum Schein. Und es bleibt unvergessen, dass es die SPD und die Grünen waren, die den Erwerbslosen das Essen gekürzt haben, um sie zu Hungerlöhnen zu zwingen. Der damalige Minister und spätere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering sagte: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Es liegt nicht in der Macht der Arbeiter, ob sie Arbeit finden oder behalten. Darüber entscheiden die Unternehmer, die nur nach der Profitlogik gehen und möglichst wenige und billige Arbeitskräfte wollen. Aktuell gibt es trotz Aufschwungs über drei Millionen Erwerbslose. Sie sind nicht nur Armut ausgesetzt, sondern ihnen wird die Möglichkeit zu arbeiten, vorenthalten. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, alle Menschen zu beschäftigen.

Die Arbeiterklasse muss die Reihen schließen und sich gegen die Spaltung wenden. Denn für den Angriff auf die schlecht organisierten Teile der Arbeiterklasse von 2005 haben alle mit einem hohen Preis bezahlt. Der Niedriglohnsektor ist der größte in Europa geworden, die Leiharbeit boomt und in den Betrieben geht auch fünfzehn Jahre nach der Einführung von Hartz IV die Angst vor Erwerbslosigkeit um.

Was müssten die Losungen für den gemeinsamen Kampf für Verbesserungen sein? Im ersten Schritt Abschaffung der Sanktionen, Abschaffung der Leiharbeit und Erhöhung des ALG II. Im zweiten Schritt: unbegrenzter Bezug von ALG I. Die Geißel der Arbeitslosigkeit können wir erst im Sozialismus loswerden, wenn die Gesellschaft plant und bestimmt, was produziert werden muss und jede Arbeitskraft gebraucht wird.

Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der auf Kosten der Gesellschaft lebt. Das sind nicht die Erwerbslosen, die zumeist vorher in die Sozialkassen eingezahlt haben. Es sind die Familien Quandt, Siemens oder Schäffler. Es sind die Aktienbesitzer und Stiftungsvorsitzenden, die von der Arbeit der Beschäftigten bei BMW, Conti und Co. leben und die Gesellschaft aussaugen. Der Spruch „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen“ stammt übrigens aus der Sowjetunion. Dort, in einem sozialistischen Land, mussten alle arbeiten und es gab Arbeit für alle. Niemand musste Hunger leiden, wenn er bereit war, seinen Teil zum Aufbau der Gesellschaft beizutragen. Wer sich jedoch dieser Arbeit für die Gesellschaft entziehen wollte – und das waren die Quandts, Siemens und Schäffler Russlands, die vor der Revolution alles besaßen – der wurde bestraft. Zu Recht.

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